Die Suche nach Indien

India is good for a surprise every day. Sometimes it brings you closer to heaven, sometimes to hell, sometimes to life in the here and now. The book “The Search for India” is like a journey into life itself. Here I share one of my experiences with you. – Dennis Freischlad

Book Excerpt (Available only in German):

Durch die im Inder aufschäumende Güte ist er bisweilen von größtem Mitgefühl beseelt, zugleich kann er durch irgendein albernes Gefühl, welches seinen Stolz, seine Religion oder seine liebste Cricketmannschaft betrifft, einen Menschen in Stücke hacken!  Eine einzige Sekunde, und er ist Gott – oder eine Bestie.

Dies alles lässt sich unter das zweite große indische Prinzip kategorisieren, womöglich das stärkste und häufigste von allen.

Die Notwendigkeit.

Die Notwendigkeit beinhaltet gleichzeitig Demut und Größenwahnsinn. Sie sorgt dafür, dass es stets etwas zu tun oder zu unterlassen gibt. Die Notwendigkeit der Straße z.B. ist das Vorankommen und die Notwendigkeit eines Büros das Warten. So ist man in der schizophrenen Lage, auf dem Weg zum Amt all seine Beherrschung zu verlieren, wenn die Straßen blockiert sind. Denn der Inder kann, wenn er eine Maschine navigiert, einfach nicht vollkommen zum Stillstand kommen, es geht einfach nicht! Er wird hypernervös und selig zugleich stundenlang Zentimeter um Zentimeter vorantippeln und dem Vordermann einhundertmal hinten reinfahren, bevor er auch nur eine Sekunde im Straßenverkehr vollkommen stillsteht – es würde ja auch den Sinn der Straße zunichte machen. Kommt er aber nach wohlzelebrierter Nervenaufreibung in einem indischen Büro an, wird er dort, wenn es denn notwendig ist, den ganzen Tag mucksmäuschenstill und zuvorkommend in einem überfüllten Bürovorraum darauf  warten, nicht an die Reihe zu kommen.

Notwendigkeiten überall: die Notwendigkeit von Verpackungen ist Müll, die Notwendigkeit des Abfalls ist die Verschmutzung. So einfach ist das. Die Notwendigkeit einer Streiterei ist die Prügelei, und die Notwendigkeit nach einer Prügelei ist die Versöhnung. Es ist unglaublich, aber ich habe schon Schlägereien in Bussen erlebt, in der man sich in der einen Sekunde fast umgebracht hätte und in der nächsten wieder vollkommen friedlich, reinen Engelswesen gleich, nebeneinander saß.

Alles hat seinen Preis und seine Handhabung. Wenn das Leben dich zum Kampf zwingt? Wenn das Leben dich zur Seligkeit zwingt? Alles, was die Inder tun, ist also stets zweckgebunden und orientiert sich an den Erfordernissen der jeweiligen Gegenwart.

Diese Art der Gegenwartshandhabung aber hat bei dem ausländischen Beobachter zu einer immensen Fehlinterpretationen über das Land geführt: zur Ansicht, die Inder seien ewig friedvolle Lebewesen, die selbst im größten Chaos die berüchtigte innere Ruhe bewahren. Aber nein, sie sind lediglich nach Notwendigkeit ruhig oder nicht.

Es ist die Person Mahatma Gandhi, die vor allen Dingen für diese falsche Wahrnehmung verantwortlich ist. Laut V.S. Naipaul lag der Genius Gandhis darin, intuitiv zu erkennen, „wo genau Hindu-Tugenden wie Quietismus und religiöse Selbstliebe in ein selbstloses Handeln von überwältigender politischer Kraft verwandelt werden konnten.“ Die vor und während britischer Regentschaft völlig ungeeinten indischen Regionen haben sich nicht durch innere Friedfertigkeit, sondern durch eine gehörige Lücke in Zusammenschluss und militärischer Organisation in ihr Schicksal als ewig armes und unterdrücktes Volk gefügt (zudem kann zweifelsohne behauptet werden, dass alle Konflikte und Krisen, die vor dem Auftauchen Gandhis stattgefunden haben, genauso brutal und erbarmungslos über die Bühne gingen wie irgend sonst auf der Welt). Diese Fügung wiederum beinhaltete ebenfalls ein Prinzip der Notwendigkeit, denn unter den starren und unbeugsamen Regeln des Kastenwesens hat die Mehrzahl der Inder schon immer gelernt, den Dienst und die Unterordnung als auferlegtes Schicksal zu akzeptieren.

Gandhis Vereinigung des religiösen Indiens unter dem Banner der Gewaltlosigkeit und des passiven Widerstands war zu einem gewissen Zeitpunkt in der Geschichte des Landes die einzige Möglichkeit, die Freiheit von den Briten zu erlangen. Die Szenen und Jahre, die unmittelbar auf die Verkündung der Unabhängigkeit folgten, bewiesen im Nu das Ende der gewaltlosen Zeiten und ließen Gandhi bald als einen Mann zurück, der über keinerlei politische Kraft mehr verfügte, von seinen Mit-Indern als weltabgewandte und heilige Ikone verehrt wurde und in einem Indien starb (bzw. ermordet wurde), welches bereits in neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen steckte. Die temporäre Notwendigkeit der Ideen und Überzeugungen Gandhis war vorbei, sobald diese gesiegt hatten.

Menu